Er lebte sein Leben (erschienen im Satiremagazin PhoBi)

Es ist die ehrlichste und unschuldigste Freude, die das ehrliche und unschuldige Herz eines ehrlichen und unschuldigen Menschen ereilen kann. Und man wird sich nie davon lossprechen können, in ein derartiges Freudenfeuer einzutauchen.
Gedankt sei’s der uferlosen Empathie des menschlichen Gemüts.
Und dem Prosecco.

Sie beschritten ehrfürchtig die Schwelle des Hortes, in dem ihnen während der kommenden, mit dem Auge der ewigen Hoffnung erspähten Stunden der Segen zuteil werden sollte, sich an der Quelle des heiligsten Lebensglücks laben zu dürfen.
Denn diese selig vor sich hin stinkende Dreieinigkeit vermochte die wertvollsten Erinnerungen freigebigster Freundschaft in sich zu bergen. Die Vergangenheit gehörte ihnen allen. Sie priesen solch unumstößlich loyale Hochgenüsse.
Diese Kneipe versprach einfach alles, wonach sich das ehrliche Herz sehnte, wahrlich all das, was das Dasein einer unschuldigen Leber erheiterte.
Und Liebe in aller Munde. Bis Mitternacht. Oder bis zur Transplantation der Unschuld.

Jo hatte gerade ihren Mantel abgelegt, als Goldkehlchen Anke, die strammen Ärmchen weit ausgebreitet, mit hingebungsvoller Grazie herantänzelte.
Anke hatte bereits zu Schulzeiten bewiesen, dass sie ein extraordinäres Gespür für Rhythmus und Gesang besaß. Eine Karriere als Dancingqueen hatte sie jedoch nie für erstrebenswert gehalten. Lieber hatte sie sich auf die Ausbildung ihrer einzigartigen Stimme konzentriert, um eines Tages Finnisch studieren zu können.
Nein, das habe sie eigentlich nie zuvor in Erwägung gezogen, aber das Leben weise manchmal auf die unvorstellbarsten Gelegenheiten hin, die man keinesfalls verwerfen dürfe. Finnisch und Wirtschaftsfinnisch und Finanzberaterfinnisch, also für finnische Unternehmen, die einer fachkundigen Unterstützung bedürften, seien eine solide Basis für die Zukunft, wie Anke betonte. Ihre künstlerische Energie habe sie allerdings nie zu verdrängen gedacht. Im Gegenteil. Sie habe es zur Hauptrolle einer besonders ausgefallenen Musicalproduktion gebracht, bei der Sören Kemmska aus Schweden Regie führe. Sören Kemmska! Das könne man sich ja wirklich kaum vorstellen! In Schweden sei er der vielversprechendste Newcomer in der Branche, und in Finnland natürlich auch. Er habe die Produktion beinahe ohne fremde Hilfe auf die Beine gestellt, und das trotz seines Nebenjobs bei IKEA. Witzig sei so etwas. Denn durch das Ineinanderschieben der Einkaufswagen, worin seine Hauptverantwortung bestanden habe, sei ihm bewusst geworden, dass es ein wenig diffizil werden könne, mit rollenden Gegenständen auf der Bühne zu arbeiten. Daher sei es nicht zur Inszenierung von Starlight Express gekommen. Zum Glück sei Kemmska so ein schlaues Köpfchen. Man bedenke die Konsequenzen, die eine derartige Aufführung mit sich gebracht hätte! Vor dem finanziellen und gesundheitlichen Ruin habe er seine Schützlinge bewahrt. Wie ein Vater verhalte er sich des Öfteren. Kümmere sich um die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen. Seine Fairness habe sich dann auch durch die demokratische Abstimmung bei der Entscheidung zu einem neuen Musical ausgezeichnet, einem Musical, das man ohne Rollen aufführen könne, das verstehe sich ja von selbst. Einem noch etwas unbekannten philosophischen Werk habe man sich letztlich verschrieben, Huhn oder Ei – Das ist hier die Frage. Leider könne die Uraufführung nicht in Finnland oder Schweden stattfinden, da die Texte in deutscher Sprache verfasst seien. Kemmska arbeite natürlich bereits an einer englischen Version, wegen der Universalität, aber zunächst stehe die Tour bevor. Tourneestart in Hodenhagen. Kemmska sei risikobereit und äußerst zuversichtlich, deshalb setze er alles auf eine Karte. Eine gute Karte. Mit der universellen Anke in ihrem Element.
Und sie habe viel Hingabe. Und Semesterferien.
Dass es in der Redaktion gut laufe, hatte Jo sagen wollen, doch Anke bestand darauf, ihre bei Kemmska erlernten Künste zu demonstrieren, und schob ihre beste und liebste und tollste und ehrlichst vermisste Freundin, ja Busenfreundin sondergleichen, an den Tisch des grausamsten Gelächters.

Man begrüßte. Man busserlte. Man befand sich unter Freunden, die man zu lange nicht gesehen hatte.
Da man sich so gut kannte, entfielen die Höflichkeitsfloskeln, und ein jeder konnte beginnen, sich für den anderen zu interessieren.

Für die Vergangenheit eines anderen und die Gegenwart eines jeden.

Durch den süßlichen Geruch des Prosecco, den Anke in regelmäßigen Abständen herankarrte, schlichen sich Babyseife und Puder.
„Hab die Kleine eben gebadet und zu Bett gebracht. Ihr eine Geschichte erzählt. Eine von den guten.“ Er nahm die Brille ab und legte sie neben sein leeres Glas.
Anke pflichtete eifrig bei, verdeutlichte jedoch, dass sie für das Schlaflied zuständig gewesen sei.

Das Land der Träume schien nun nicht mehr unergründlich zu sein.

Lukas entschuldigte sich. Sagte, er wolle kurz Luft schnappen. Draußen.

Anke lächelte. Sie genoss sichtlich diese Zusammenkunft dreier Menschen, welche die meiste Zeit ihres Lebens gemeinsam verlebt hatten.
Ihre glücklichen Bäckchen glühten, als sie in Erinnerungen schwelgte. Die Zeit vor ihrem Studium, vor dem Baby mit Lukas, vor ihrer baldigen Karriere, vor ihrer Affäre mit Sören, vor Lukas’ Entfremdung und Abneigung und Ignoranz, vor der großen Versöhnung und der Hochzeit.
Lukas’ Antrag. Endlich. Sie habe einfach nicht nachgedacht, als Sören mit eindeutigen Andeutungen von erheblichem Ausmaß angefangen habe. Vielleicht habe sie sich auch zuviel davon versprochen. Beruflich gesehen, das verstehe sich natürlich von selbst. Unbeschreiblich leid tue es ihr. Das habe sie auch Lukas zu erklären versucht. Ehrlichkeit spiele nun mal die wichtigste Rolle in einer Beziehung. Das habe sie begriffen, wenngleich ihr die weitere Zusammenarbeit mit Sören schon jetzt, vor Tourneestart, erhebliche Kopfschmerzen bereite. Immerhin könne er ja ein zweites Mal mit eindeutigen Andeutungen von ebenso erheblichem Ausmaß anfangen, und was solle sie dann dagegen tun? Ihre Kunst bedeute ihr alles. Neben dem Baby. Neben Lukas selbstverständlich.
Für die herzlichen Glückwünsche zur Hochzeit wolle sie sich bei Jo bedanken. Lukas habe sich sehr gefreut. Sei beinahe in Tränen ausgebrochen. Seltsam würden die Männer, wenn sie ein unschuldiges Baby im Arm hätten.
Kurz vor zwölf sei es schon? Sie müsse unbedingt nach Hause. Das Baby. Das Taxi warte bestimmt bereits, denn sie habe dem Fahrer am Telefon verkündet, dass um zwölf Schluss mit lustig sei. Es ändere sich vieles, wenn jemand, ein unschuldiges Baby, auf einen warte. Ehrlich.
Lukas habe sich angeboten, Jo nach Hause zu bringen, sofern sie wolle. Vermisst habe er sie schließlich auch. Gute Freunde verliert man nie.
Anke schlürfte das letzte Tröpfchen Prosecco aus ihrem Glas, busserlte und flatterte gen Heimat.

Als Lukas seinen gewohnten Platz einnahm, spielerisch die Brille in den Händen. Hier.

Wann hatte er das letzte Mal geträumt, der Andere, von dem man behauptete, er sei ein Lebensträumer? Der Andere, der erst sterben musste, um dann darüber nachzudenken.

Er roch nach Zigaretten. Nach gestern.
„Denkst du manchmal noch daran?“ Lukas sah Jo an.

Denn da waren mal zwei, zwei, die sich liebten, nur einmal, nur einmal. Und einmal ist keinmal. Der Andere von damals. Der war’s. Und keiner hat’s gesehen.

Es ist die zukunftslose Zukunft, die das Herz ereilen kann.
Prost dem Freudenfeuer.
Wohin mit all der Ehrlichkeit? Wohin mit der Unschuld?

Sie lebten ihr Leben.


© Sarah Maria Lejeune

 

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